Manchmal scheint die Grenze zwischen Schmerz und Wirklichkeit zu verschmelzen.
Das Bett in dem ich erwache ist weich, es riecht gut. Es dauert eine Sekunde bis ich mich erinnere.
Petra.
Es ist ihr Bett, es war ihr Schweiß, ihr duftendes Haar, das an ein Feld voller in Blüte stehender Rosen erinnert, es war ihr Orgasmus der mich aufkeuchen und fast weinen ließ, es ist ihr Sohn der mir ins Gesicht blickt als ich die Augen öffne.
„Liebst du meine Mama?“
Ich blinzle.
Die Augen an das Gesicht eines Fünfjährigen geheftet flüstere ich hektisch: „Petra... Petra!“
„Noch zu früh Julian… Versuch noch ein wenig zu schlafen.“
Der Kleine grinst mich an. Ich wusste nichts von einem zweiten Kind. Das Andere, sei es Mädchen oder Junge, müsste nun ungefähr fünfzehn sein.
Mit grimmiger Miene krieche ich aus dem Bett. Gott sei dank habe ich meine Boxershorts nach dem Liebesspiel wieder angezogen.
Der Kleine läuft voraus, ich hinterher und hoffe, dass er den Gestank nach Sex und Schweiß nicht riechen kann.
Minuten später sitzen wir beide am Boden des Wohnzimmers und spielen in friedlicher Eintracht mit unzähligen Legosteinen die über den ganzen Boden verstreut liegen. Er scheint zufrieden und daran gewöhnt männliche, unbekannte Gesellschaft beim spielen zu haben. Normalerweise sollte mich so etwas beunruhigen. Ich bin zu glücklich um nach zu denken. Will mich nicht beirren lassen. Ich baue ein Raketenboot mit Turboantrieb, grünen Lichtern und Kanonen. Stolz auf meine wiedergeborenen Bastelkünste reiche ich ihm das Boot.
Lachend vernichtet der Junge all meinen Stolz und präsentiert mir seine Version eines zweistöckigen Hauses inklusive Swimmingpool und Garten. Plötzlich wird mir mein plumper Versuch ihn zu beeindrucken peinlich und ich erhebe mich von unserem Spielplatz.
Immer noch in Boxershorts schreite ich durch das Wohnzimmer, wozu ich nur drei Schritte zu machen brauche, denn Petra besitzt anscheinend eine sehr kleine Wohnung für drei Personen. Ich stelle mich an ein Fenster und blicke nach draußen. Wolken ziehen auf, es beginnt zu regnen. Hinter mir gluckst und lacht der Kleine vor sich hin und spielt wider erwarten mit dem Boot.
Draußen stürmt es, trotz des frühen Morgens ist es dunkel.
Sollte es nicht gerade die Dunkelheit sein die uns oft zu größten Erleuchtungen führt.
Mein Vater wusste Regentage immer zu schätzen. Seine hohe Meinung solcher Tage rührte daher, dass er solche Tage oftmals lesend, studierend, und manchmal auch schreibend, verbrachte. Er fand es wunderbar sich weiterbildend, im großen grünen Ohrensessel seine Lieblingsmusik zu hören. Immer Klassik, immer nur Mozart, Beethoven, Bach, Rachmaninov. Vielleicht noch viele mehr. Ich erinnere mich nicht. Wie ich auch so viel Anderes einfach vergessen habe. Unzählige Dinge die mein Leben ausgemacht haben. Ich habe mich selbst verloren.
Das Vergessen begann kurz nach dem Tod meiner Mutter. Mit ihr ging eine Welt verloren. Eine Welt der Geborgenheit, des Vertrauens.
„Ich mache Frühstück. Brot, Müsli, Toast, Eier mit Speck…?“
Ich ergreife ihre Hand die auf meiner Schulter liegt, rieche an ihr, küsse ihren weichen Handrücken. „Nur Kaffee, danke.“
Von Frühstück wird mir schlecht, aber das sage ich ihr nicht.
Schweigend sitzen wir zu dritt am Tisch. Die beiden essen, ich trinke braunes heißes Wasser mit Zucker. Wie eine Familie, nur, dass es nicht meine Familie ist.
oliverkossegg - 8. Jun, 21:36